Kolonialpolitik lokal: Die Reichstagswahlen 1907
Im Dezember 1906 löste der deutsche Reichskanzler Bernhard von Bülow den Reichstag auf. Ein Grund dafür war, dass das Parlament zuvor einen Nachtragshaushalt über die Bereitstellung von zusätzlichen Geldern für die Kriegsführung der deutschen Truppen gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika abgelehnt hatte.
Einen weiteren Grund bildete die Kritik von SPD und Zentrum an der Vorgehensweise der Kolonialverwaltung und des Militärs. Denn in Deutsch-Südwestafrika führte das Deutsche Reich einen brutalen Vernichtungskrieg gegen die dort lebenden Gesellschaften. Da die Nama in Deutschland abwertend als „Hottentotten“ bezeichnet wurden, ging der nunmehr geführte Wahlkampf als „Hottentottenwahlen“ in die Geschichte ein.[1]
In Heidelberg wie im ganzen Deutschen Reich führten die politischen Parteien auf Flugblättern, in Zeitungsartikeln und auf Vorträgen einen aggressiven Wahlkampf.[2] Befürworter*innen des Kriegseinsatzes waren in Heidelberg der „liberale Block“ um den Reichstagsabgeordneten Anton Beck mit der Nationalliberalen Partei als stärkster Kraft und die Konservativen um den Verlagsbesitzer Otto Winter. Beide machten vor allem wirtschaftliche Argument stark: die Bedeutung von Deutsch-Südwestafrika als Rohstoffquelle einerseits und als Absatzmarkt für überschüssige heimische Industrieprodukte andererseits.
Aber sie warben auch mit imperialistischen Tönen für die deutschen Kolonien als Prestigeobjekte des Deutschen Reiches im Wettkampf der Nationen (vor allem mit Frankreich und England). Deutsch-Südwestafrika stellten sie dabei im völkischen Sinne als „Neu-Deutschland“ dar, in das die deutsche Auswanderung gelenkt werden sollte, um nicht weiterhin als deutsche Staatsbürger*innen an andere Nationen, wie die USA „verloren“ zu gehen. Unterstützung erhielten diese Parteien von der Abteilung Heidelberg der Deutschen Kolonialgesellschaft, welche Lichtbildvorträge im großen Saal der Harmonie mit Militärs und Professoren als Rednern veranstaltete sowie Flugblätter verteilte.[3]
Als Kolonialgegner trat in Heidelberg vor allem die SPD mit ihrem Kandidaten Georg Pfeiffle auf, welcher die im Krieg verübten Verbrechen an Herero und Nama heftig kritisierte sowie die „Leiden“ der deutschen Soldaten dort als nicht hinnehmbar darstellte. Des Weiteren richteten sich die Heidelberger Sozialdemokrat*innen gegen die in ihren Augen falschen wirtschaftlichen Argumente: Die Kolonien seien tatsächlich unrentabel, da die Gewinne aus der Ressourcenausbeutung geringer seien, als die Kosten für Kriege wie den in Deutsch-Südwestafrika oder für den Ausbau der Infrastruktur.[4]
Insgesamt führte der aggressive Wahlkampf zu einer Politisierung der Bevölkerung. Auf diese Weise machte er das Thema Kolonialismus und Kolonien auch nach Heidelberg prominent. Als deutliche Sieger dieser Wahl ging der Nationalliberale und Kolonialbefürworter Anton Beck hervor. Auch auf Reichsebene gewannen die Kolonialbefürworter die meisten Mandate, sodass der Nachtragshaushalt bald verabschiedet wurde. Die Nachwirkungen des grausamen Vernichtungskrieges in Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) sollten noch Jahrzehnte spürbar bleiben – teilweise bis heute.
Matthias Sucker